„Aufruf zur Begründung eines Kreisvereins für Volksbildung”

Elberfelder Zeitung Nr. 290 vom 19.10.1844

entnommen aus: Tania Ünlüdag, Historische Texte aus dem Wupperthale. Quellen zur Sozialgeschichte des 19. Jahrhunderts, Wuppertal 1989

15.10.1844


Aufruf
zur Begründung eines Kreisvereins für
Volksbildung.

Festere Begründung und Erweiterung des Volksunterrichts, Beförderung der sittlichen und praktischen Bildung, Namentlich des Hand- und Fabrikarbeiters ist eine dringende, unabweisbare Aufgabe unserer Zeit. Was unser preußischer Staat dafür gethan , wie segensreich einzelne Vereine auf dem religiösen, oder dem streng praktischen Gebiete gewirkt, das ist bekannt ; — durchgreifende Resultate aber lassen sich nur von freien Vereinen einer sehr großen Zahl gleichgesinnter und thätiger Männer erwarten. Ein solcher Verein hat sich in Dortmund gebildet. Seine Statuten sind von den hohen Ministerien genehmigt. Was Dortmund in Westphalen that , das verdient in den Rheinlanden vor Allen Elberfeld und sein Kreis zu thun, — voranzugehen mit einem großen Beispiele zum geistigen und materiellen Segen so Vieler.

Das Bedürfniß liegt am Tage. Unsere Elementar=Schulen erfüllen würdig ihren hohen Beruf; die aufopfernde Menschenfreundlichkeit unserer edlen Frauen hat schon mehrere Kleinkinder=Schulen ins Leben gerufen ; auch arbeiten Sonntags=Schulen und ein Verein für junge Handwerker und Fabrikarbeiter rühmlich mit an dem großen Werke.

Reichen wir diesen Anstalten mit herzlichem Willkommen freudig die Hand, — es bleibt uns noch genug zu thun.

Noch fehlen uns eigentliche Fortbildungs Anstalten für die aus den Elementar=Schulen und dem elterlichen Hause Ausgeschiedenen. Befestigung des in der Schule Erlernten, Erwerbung nützlicher Kenntnisse für den praktischen Beruf, geistige Anregung mancherlei Art, und die Pflege eines ächt religiösen, sittlichen Sinnes — wem thun sie mehr Noth, als diesen kräftigen, aber der Verwilderung so leicht preisgegebenen Jünglingen! Wie manche gute Keime, die der erste Unterricht und das Beispiel der Eltern pflanzte, gehen nicht später durch die Verführung wilder Genossen, vor denen der junge Mann keinen Schutz findet, unwiederbringlich verloren !

Der Lehrling, der Geselle , meistens fremd am Orte der Arbeit, ohne Anhalt und Familien-Umgang, ist um 7 oder 8 Uhr Abends, wie auch fast den ganzen Sonntag von der Arbeit frei und sich selbst überlassen. Die Langeweile und der Mangel an würdiger Beschäftigung führen ihn in die Branntweinschenken oder in noch schlimmere Gesellschaft, oder lassen ihn am Abend in den Straßen sich herumtreiben. Und was wird hier gelernt als Rohheit und Unsittlichkeit!

Bahnen wir unserm deutschen Gewerbstande , einem so ehrenwerthen und nütztlichen, wie nur immer im Staate, den Weg zu einem würdigern Ziele; machen wir auch den Aelteren, den Meistern und Lehrherrn eine zugleich angenehme und nützliche Unterhaltung möglich; eröffnen wir endlich würdigen Lehrern — für ihre Mußestunden einen weitern, segensreichen , auch für ihre äußere Stellung ersprießlichen Wirkungskreis !

An diese Fortbildungsschulen würden sich dann, — und das ist ein zweites großes Bedürfniß, — in jeder Gemeinde guter Volksschriften anschließen, die in gleicher Weise den religiös-sittlichen Sinn beleben, und dem erwachten Streben nach intellektueller und technischer Weiterbildung würdige Nahrung bieten. Gute Volfsschriften sind zugleich am Besten geeignet, die Pest einer Geist und Herz vergiftenden Leserei auszutilgen.

Das Bedürfniß ist groß, aber auch die Mittel sind groß, wenn Viele, wenn Alle sich betheiligen. Und so ergeht denn unser Aufruf zur Begründung eines Kreisvereins für Volksbildung an sämmtliche Mitbürger unseres Kreises, an die Vorstände der Gemeinden und die Geistlichen und Lehrer, an die Meister und Fabrikherren, an Alle, denen das Wohl des Volkes, das Wohl des Staates am Herzen liegt. Jeder Einzelne ist ein wesentliches Glied des Ganzen, und einträchtiges Wirken unter dem göttlichen Beistande macht auch das Schwierigste möglich. Gott gebe seinen Segen dem guten Werke!

Indem wir nun sämmtliche Mitbürger unseres Kreises zu einer Generalversammlung im Assisen-Saale des hiesigen Rathhauses auf Sonntag den 27. October d. J., Nachmittags 4 Uhr, einladen, […]

Elberfeld, den 15. October 1844. Mehrere Bürger.