1958 schrieb der bekannte Kunstsammler und Kritiker Albert Schulze Vellinghausen ein Essay über Wuppertal, das am 25. Januar in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung veröffentlicht wurde. „In Wuppertal schwebt man“, so lautet die Schlagzeile, sie war einem Plakat des Verkehrsamtes (für den Tourismus zuständig) entlehnt. Durch die Schwebebahn erhalte die strenge Stadt etwas von einem „Vergnügungsetablissement“.

„Zugereiste behaupten, kaum eine Bevölkerung in Deutschland stände so mit beiden Beinen auf dem unvermeidlichen Boden der Realität. Die Realität ist hier ein ungemein erfindungsreicher Gewerbefleiß. Das Branchen-Adreßbuch führt 831 Arten Gewerbe und Tätigkeiten auf. Zumeist handel es sich um klug getüftelte Spezialisierungen der Textilfabrikationen, der Kleinmetallindustrie und der Herstellung von Farben und Lacken. Gleichwohl läßt sich – soweit man 400 000 Köpfe auf einen Nenner bringen darf – die Behauptung wagen, sie seien vom Grund ihres Herzens bereit „zu schweben““.

Es folgt eine kurze Beschreibung der Geschichte, beginnend mit der Garnbleiche und des ersten Aufflackerns des Protestantismus. Als dann der Calvinismus einzog, „beflügelte der feste Glaube an die Prädestination den Elan des Erwerbssinnes, Arbeit und Gewerbe wurden Gebet. Wirtschaftlicher Erfolg wurde Gradmesser für tugendhaftes Verhalten.“ Mit den Webern habe dann der Pietismus Einzug gehalten; mit karitativer Selbstlosigkeit, aber auch Messianismus, Unduldsamkeit, Fanatismus. Daher habe Wuppertal dann den Spitznamen Muckertal erhalten. Immermann habe Wuppertal „infames Nest“ genannt,  Freiligrath gar „Sektenschlucht“. Aber dass man den Wuppertaler nachsage, sich auch heute noch in 200 Sekten aufzuspalten, sei ungehörig, nur 15% (50.000 Menschen) gehörten freikirchlichen, freireligiösen und freidenkerischen Gemeinden an. Dennoch gebe es natürlich gewisse Traktate wie „Licht über sieben Donnern“ oder „Uebernatürliche Verwesungswahrheiten“. Auch wenn die Zahl dieser Zusammenschlüsse nicht mehr als 40 betrage, müsse man doch zugeben, dass auch die Lehrmeinung innerhalb der „offiziellen“ Protestantischen Kirche (Unierte, Lutherische, Reformierte) je nach Stadtteil voneinander abweichen würde…
Doch weiter in der Geschichte:

„Das Wuppertal, die damals noch feindlichen Schwesterstädte Elberfeld und Barmen zusammengerechnet, hatte vor hundert Jahren gut 85 000 Einwohner.. Es war mithin damals größer als Leipzig, Stuttgart oder München; viel größer als die Städtchen des noch nicht erschlossenen Ruhrgebiets, schien es gar eine Zeitlang die rheinische Metropole Köln zu überflügeln. Wuppertal nahm die sozialen Probleme der Gründerzeit vorweg.“

 Es folgt die Beschreibung des Armensystems, schließlich widmet sich Schulze Vellinghausen den berühmten Wupppertalern. Friedrich Engels, Hans von Marées, Wilhelm Dörpfeld, Carl Duisberg, Ferdinand Sauerbruch, Ernst Bertram und Else Lasker-Schüler. Dann kommt er auf die Kunst zu sprechen.

„Daß die Kunst früher in Wuppertal eine mehr als „geduldete“ Rolle gespielt habe, läßt sich mit keinerlei Argument belegen. Ich erwähnte schon Immermanns Abscheu. Felix Mendelssohn fühlte sich kaum weniger unwohl. Goethe spricht von „beschränkten, häuslichen Zuständen“; sogar seinem pietistischen Freunde Jung-Stilling war die doktrinäre Enge zuwider. Die Musen hatten keinen Raum im Betsaal.“

Allmählich habe sich mit der Saturierung des Wohlstands aber auch etwas Kunstsinn in der Stadt verbreitet. 1900 habe man sogar im alten Rathaus ein Museum [heutiges von der Heydt-Museum] gegründet, dass in der Hinsicht ein Unikum bis heute darstelle, da der Museumssockel an Einzelhändler vermietet worden sei. Dass die musische Tradition in Wuppertal fehlte, sei nun in der Hinsicht positiv, dass man moderne, gegenwärtige Kunst gekauft und ausgestellt habe. (Möglichweise sei das calvinitische Veto gegen bildlich-religiöser Kunst der eigentliche Grund, da die moderne Kunst vornehmlich mit Mustern arbeite… „hier zählt das paradoxe Ergebnis, daß man im konservativsten Bürgertum erstaunlich avantgardistisch sammelt.“)

„Theater aber und bildende Kunst machen noch nicht das Leben aus, das man „kulturell“ zu nennen pflegt. Es gibt in Wuppertal —von bemerkenswert guten Schulen, von der Volkshochschule, der Textilingenieurschule und der durchaus bestrebten Kunstgewerbeschule abgesehen — eine Institution, die der Stadt den Namen eintrug: Universitätsstadt ohne Universität. Diese Institution ist eine Laienakademie, schlicht genannt „Der Bund“. Im ‚Untertitel: Gesellschaft für geistige Erneuerung, gegründet 1946. Diese Gesellschaft, finanziert von der Stadt und geleitet von H. J. Leep, umfaßt Arbeitskreise und Diskussionsabende, nicht anders als manche Volkshochschule; aber zeichnet sich aus durch ein besonderes Maß Intensität, der Thematik sowohl wie der Anforderungen.“

Und wie ist es mit der Musik? Wie das ganze Bergische Land sei auch Wuppertal eine Domäne der Gesangvereine, alleine in der Stadt gebe es über 150. Außerdem brächte das Land und die Stadt viele Tenöre hervor. Darüber habe die die Stadt noch ein weiteres Paradox: Der Oberbürgermeister sei gleichzeitig SPD-Funktionär und Kleinfabrikant, kenne also die Sorgen und Nöte von Arbeitgebern und Arbeitnehmern. [gemeint ist Hermann Herberts]

„Ein lebendiges Kompromiß: Fleiß und Eigensinn, Nonkonformismus, Weltflucht und Weltoffenheit, patriarchische Strenge verbunden mit tätigem Sinn für den Nächsten — diese Mischung hat sich nun, über mehr als eines Jahrhunderts Länge, durchaus realistisch bewährt und bewiesen.“

„Es wären noch manche Kuriosa zu nennen, von dem rechnenden Pferd des Juweliers Krall — dem „klugen Hans“, der zur Zeit unserer Väter die Weltöffentlichkeit faszinierte — bis zu der gewerblichen Findigkeit, mit der hier ein Fabrikherr Vermögen machte: Er exportierte Pulswärmer an den Kongo, für die kalten Nächte dort in den Tropen. Es ist Findigkeit, welche nach unserem Erachten dem Surrealismus zugehört.“

Dann ging Albert Schulze Vellinghausen der Platz auf dem Papier aus und er konnte nur noch einige Dinge anmerken, die er nicht mehr ausführen konnte. Zum Beispiel dies:

„Vieles hat sich in diesem Versuch einer kurzen Monographie der Stadt nicht einmal streifen lassen. […] Nicht die glückliche Fatalität, daß die Stadt, geographisch beengt zum Phänomen des „bebauten Grabens“, dem Schicksal entging, zum Wasserkopf und zur Millionenstadt anzuschwellen. Günstiges Geschick! denn so blieb der Stadtrand immer erreichbar. Es gibt im Westen kaum eine Industriestadt, deren Bewohner so rasch im Grünen sind — im hügelig freien Waldgelände des Bergischen Landes und seiner Höhen. Es beginnt unmittelbar am Rande der Talschlucht.“