Entnommen aus: Rheinische Post vom 13. November 1954.

Wuppertal, Stadt der vielen Gesichter

Die neue „City“ in Elberfeld / Barmer Ressentiments / Ausgleichende Kommunalpolitik

Wuppertal. Die bald wieder 400 000 Einwohner zählende Großstadt im Tal der schwarzen Wupper, die heute wie früher Magd der fleißigen Färbereien und Textilfabriken ist, bleibt eine Stadt mit vielen Gesichtern. In ihr lebt eine rührige Industrie, die ob ihrer Vielgestaltigkeit bewundernswert krisenfest ist, in ihr ist aber auch noch der fast puritanisch anmutende Geist des Protestantismus vorhanden, neben dem heute eine lebendige katholische Diasporagemeinde existiert, in ihr herrscht eine kulturelle Aufgeschlossenheit, die vornehmlich die Städtischen Bühnen unter dem in Wuppertal gebürtigen Generalintendanten Helmut Henrichs zu einem vielbeachteten westdeutschen Theater gemacht hat.

Blicken wir einmal in das bunte Wuppertaler Fenster in dem die „gute Stube des Bergischen Landes“, in dem sich in jüngster Zeit viel getan hat. Da ist im Stadtteil E l b e r f e l d eine moderne Innenstadt entstanden. Kaufhaus drängt sich neben Kaufhaus. Altgewohnte strenge Architektur steht neben einem Mosaikpalast fast ohne Etagenfenster, von dem der Architekt sagt, der Dogenpalast in Venedig sei das große Vorbild gewesen. Daneben sieht man luftige Glasbauten, die eine ungewöhnliche Note schwebender Leichtigkeit ins Stadtbild bringen. Revolutionäre Ideen in der Stadtplanung haben hier nicht Pate gestanden. Die alten Fluchtlinien, die engen Straßenzüge kannten, sind kaum verändert.

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B a r m e n fühlt sich demgegenüber etwas vernachlässigt. Viele schauen neidisch auf die Elberfelder „City“, wie sie hochtrabend genannt wird. In der Tat ist es merkwürdig, daß Elberfeld den großen Anziehungspunkt für die Baulust riesiger Kaufhäuser bildet. Die Fachleute glauben die Struktur des Einkaufsplatzes Elberfeld so sorgfältig geprüft zu haben, daß sie sich hier den erwarteten Erfolg versprechen. Mit dem Aufbau dieser City steht aber Wuppertal in den nächsten Jahren vor der entscheidenden Frage, ob der „Kuchen“ seine jetzige Größe behält und nur die Stücke kleiner werden, die sich der einzelne Kaufmann herausschneidet, oder ob das kaufkräftige nieder- und oberbergische und märkische Hinterland weiter erschlossen werden. Man ist entschlossen, den Versuch zu wagen und will im Reigen der der westdeutschen Großstädte ein gewichtiges Wort mitsprechen. Ab 27. November soll die Stadt im Lichterglanz erstrahlen und als „Märchenstadt“ für sich werben.
Aber nun zurück zum Barmer Ressentiment. Auch die Barmer Innenstadt ist im Werden. Ein Stück der breiten neuen Talstraße, die in Zukunft endlich einmal Wuppertals durch die topographische Lage bedingten Verkehrsnöte beseitigen soll, ist im Mittelpunkt von Barmen fertig geworden. Da sieht es jetzt am Wupperufer wirklich „großstädtisch“ aus. Diese „Prachtstraße“ mit zwei Fahrbahnen für Autos und einem Grünstreifen in der Mitte hat eine am Abend hell erstrahlende Fassade erhalten, die Lichtspielhäuser, Kaufhäuser und Restaurants vereinigt.
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Der Verkehr bleibt das Sorgenkind Wuppertals. Die Durchfahrt durch das lange Tal von Oberbarmen bis Vohwinkel ist für Autofahrer eine Plage. Entlastungsstraßen sind nur Notlösungen. Die große Talstraße muß her. Auch in Elberfeld ist ein Teil in der Nähe des Hauptbahnhofs fertig geworden. Ein neues städtebauliches Gesicht hat hier Wuppertal andeutungsweise schon erhalten. Vom weiteren zügigen Fortschritt im Bau dieser Straße ist aber wenig zu verspüren. Der finanzielle Aderlaß ist wohl nicht so schnell zu „verkraften“.
Aber sonst häufen sich große Aufbauprojekte. Das Elberfelder Gymnasium steht fast fertig da in moderner Sachlichkeit. Das Opernhaus in Barmen soll am Alten Platz im nächsten Herbst eröffnet werden, der Grundstein zu einer neuzeitlichen Badeanstalt, die den sportlichen und sozialen Anforderungen genügt, wird bald gelegt, die „Glanzstoff“ will im nächsten Frühjahr mit einem Verwaltungshochbau beginnen, die Barmer Ersatzkasse kehrt mit ihrer weitverzweigten Verwaltung an ihren Ursprungsort zurück und wird großzügig bauen.
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So regt sich überall neuer Gestaltungswille. Aber Wuppertal hat noch nicht die hemmende Tatsache überwunden, daß es erst seit 25 Jahren eine einheitliche Großstadt geworden ist. Noch stehen spürbar nebeneinander die Städte Barmen, Elberfeld, V o h w i n k e l, C r o n e n b e r g  und R o n  s d o r f als Gemeinwesen mit eigener Prägung. Westfälischer Ernst und rheinische Lebendigkeit bleiben als Merkmal nebeneinander bestehen. Zwei große Stadtkerne werden auch in Zukunft das Bild der Wupperstadt bestimmen, das e i n e Zentrum fehlt. Aber man ist nun dabei, psychologisch eine Einheit zu prägen. Viel ist auf diesem Weg erreicht werden. Wenn der völlige Durchbruch zur Einheit gelingt, wird Wuppertal vielgestaltiger und reicher als manche westdeutsche Großtstadt sein und seinem Motto treu bleiben: “ Wat angere Städte hant apatt, dat hant vie all tesamen.
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Die Kommunalpolitik erstrebt dieses Ziel. Sie war unter dem aktiven Oberbürgermeister Schmeissing recht lebendig und wirkte ausgleichend. Sie wird getragen von einer breiten Mehrheit verantwortungsbewußter Kräfte im Stadtparlament, die man als eine „große Koalition“ bezeichnen kann. Sie hat in Professor H e t z e l t einen Bauplaner und Gestalter erster Klasse. Leider verliert sie mit dem Stadtkämmerer Dr. K u r z e, der jetzt Oberstadtdirektor Aachen wird, einen fähigen Finanzfachmann. Die Wahl eines Kämmerers wird nicht leicht sein. Aber die Aufgabe in Wuppertal, das mit der Fertigstellung des neuen Autobahnzubringers noch näher an Düsseldorf und Köln gerückt ist, lohnt sich. Die Stadt der vielen Gesichter wird bei Fortführung der jetzigen Kommunalpolitik vielleicht dereinst die Stadt eines Gesichts mit vielen Zügen, die ihm ein weltoffenes und doch strenges Gepränge geben.